Hans Kumpf: „Zu Ursula Stürzbecher sagten Sie (14), Sie würden an eine Popmusik-Gruppe denken bei ‚Natascha Ungheheuer‘. An wen dachten Sie da zunächst und wie kamen Sie dann zu Gunter Hampel?
Hans Werner Henze: „Ich habe eigentlich nie an eine Popgruppe gedacht, sondern sofort an Hampel, also an Free Jazz. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass eine Popgruppe mit dieser Art von Musik sehr viel anfangen könnte. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Missverständnis im Interview. Die ganze Struktur von ‚Natascha Ungeheuer‘ – auch was die Instrumentalmusik der anderen Gruppen betrifft – ist ja so gemacht, dass eigentlich Pop mit diesem normalen, regelmäßigen, pulsierenden Metrum dafür gar nicht in Betracht käme.“
„Wie sind Sie auf Gunter Hampel gestoßen?“
„Ich kannte Platten. Ich glaube, so hat es angefangen. Ich kannte ein paar Platten, hab‘ ihn dann auch irgendwann kennengelernt, und so hat sich dieser Kontakt ergeben.“
„Er hat mir mitgeteilt, das er Ihnen zwei Platten gegeben habe, und Sie diese Musik seines Erachtens sehr gut erfühlt und verstanden hätten …“
„Ich glaube, ja. Wir haben uns auch sehr gut verstanden in der Zusammenarbeit. Es war sehr harmonisch. Es ist ja sehr ungewöhnlich, dass Instrumentalmusik von einem eher traditionellen Duktus überhaupt mit so modernen Formen wie Free Jazz Hand-in-Hand gehen kann. Ich glaube, es liegt an dem besonderen Talent von Hampel, an seiner besonderen Einstellung zur Musik, dass diese Art von Zusammenarbeit überhaupt möglich geworden ist. Natürlich sind bewusst Kontraste gesetzt; die Blechkapelle kontrastiert gegen diesen dekadenten, raffinierten Klang des Pierrot-Ensembles (Klavier und zwei Streicher und Bläser). Es ist auch in einem bewussten Kontrast zu dem musikalischen Behavior des Free Jazz. Die einzige Affinität, die existiert, ist zwischen Free Jazz und den Improvisationen des Schlagzeugers (15). Aber das Klima des Stückes so zu erfühlen, wie es die Hampel-Gruppe gemacht hat, das glaube ich, ist doch ein Novum und ein vielleicht noch gar nicht bisher ausreichend beachteter Schritt innerhalb der Entwicklung der Musik.“
„Da wurden von zwei Seiten Zugeständnisse gemacht: zunächst ´mal von Ihnen – Sie haben ja schon öfter Werke geschrieben, bei denen Sie mit den Instrumentalisten gearbeitet, ihnen ein Stück direkt ‚auf den Leib‘ geschrieben haben. Und dann hat sich Hampel auch gut einfühlen können …“
„… Ja, ich glaube schon, ja …“
„… und ihm hat es Spaß gemacht. Er sagt, er hätte viel dabei gelernt. Trotzdem wären noch Welten zwischen seiner und Ihrer Auffassung gewesen.“ (16)
„Zu seiner politischen Auffassung?“
„Zu seiner musikalischen Auffassung.“
„Ja, sicherlich, das ist ganz klar. Das wird auch so bleiben. Zum einen gehört er einer anderen Generation und außerdem auch einer anderen Sektion von Musikmachen an. Und ich bin ja sehr traditionsbezogen – nicht nur als Musiker, sondern auch als Mensch. Und ich denke in marxistischen Termini, das heißt: ich denke sehr geschichtlich und sehe auch meine eigene Arbeit in einem geschichtlichen Zusammenhang – viel stärker als diese jungen Menschen es tun können, die sehr spontan und direkt und gefühlsmäßig musikalisch handeln.“
„Wenn Sie schon das Thema angeschnitten haben: Sie setzen die Jazz-Gruppe als ‚Ausdruck irrealer Utopie‘ ein. Ich glaube, da kommt leicht die Gefahr auf – speziell bei Komponisten der Neuen Musik --, den Jazz irgendwie mit Vorurteilen zu sehen. Zum Beispiel: Bernd Alois Zimmermann verwendet Jazz in seiner Oper ‚Die Soldaten‘ bei Spelunkenatmosphäre; Gunter Schuller hat bei ‚The Visitation‘ Jazz immer da, wo Gewaltszenen vorkommen. Ist das nicht …“
„Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Bei mir steht der Free Jazz in diesem Stück für die zärtlichen Dinge, für die Freiheit, also für bestimmte Vorstellungen von Freiheit, die keineswegs marxistische sind. Und das ist der kritische Anhaltspunkt. Aber ich kritisiere den Jazz nicht, sondern im Gegenteil: der Jazz hat tatsächlich unter den Möglichkeiten des Musikmachens, wie sie in diesem Stück dargestellt werden, die positivste Interpretation von mir zugesprochen bekommen. Und all das, was an Zärtlichkeit, an Hoffnung, an Freiheitsversprechungen, an Träumen existiert, liegt bei denen und, zu einem gewissen Teil kritischer gesehen, bei den Aktivitäten des Schlagzeugers. Es ist ganz interessant, dass Sie mich nach diesen Dingen jetzt fragen. Ich möchte einmal darüber ausführlicher selber schreiben, wie ich das gedacht habe, wie ich das Ganze gesehen habe.“
„Also: ‚irreale Utopie‘ ist dann positiv aufzufassen?“
„‚irrealistische‘ könnte man eher sagen oder ‚irrationale‘. Also, mit Vorsicht zu genießen, diese Formulierung.“
„Hampel sagt selber, seine Musik wäre real (17). Und oft wird natürlich im Free Jazz auch gesagt, es wäre eine utopische Musik, sie enthalte Strukturen einer zukünftigen, eben anders gearteten Gesellschaft.“ (18)
„Ich halte es im marxistischen Sinne für ideologisch, wenn behauptet wird, dass man Freiheit erreichen kann durch eine bestimmte Art von Musikmachen. Damit kann man sich vielleicht für Stunden von Belastungen, individuellen Belastungen befreien. Das gebe ich gerne zu, und das geht ja uns allen so. Ich komponiere zum Beispiel oft, um mich damit von dem, was mich sonst belastet, freizumachen. Und ich fühle mich mehr belastet, wenn ich nicht arbeiten kann. Wenn ich längere Zeit nicht zum Arbeiten komme, werde ich nervös. Aber das sind persönliche, fast an Neurose grenzende Zustände. Aber wir sagen: Freiheit existiert nur in dem Maße, wie sie jeder andere Mensch gleichzeitig auch haben kann. Meine Freiheit ist nichts, wenn andere Menschen unfrei sind.“
„Kommt nicht bei aller Musik – und natürlich auch beim Jazz – die Gefahr auf, dass sie nur die Funktion einer Ersatzbefriedigung oder einer Verschleierung der Verhältnisse hat, anstatt aktiv eine Sache anzugehen und etwas zu verändern?“
„Natürlich. Doch ist es wiederum so, dass Musik aktiv nichts verändern kann. Sie kann Freude machen, Begeisterung hervorrufen, läutern, auch die Moral heben. Musik kann viele schöne Dinge tun. Aber man soll von ihr nicht etwas verlangen, was man sonst nur mit Maschinengewehren erreichen kann.“
„Haben Sie etwas von Gunter Hampel und von seiner Musik gelernt, vom Free Jazz?“
„Ich habe eine ganze Menge gelernt bei dieser Gelegenheit. Die Ausdrucksfähigkeit von Instrumentalisten habe ich bis dahin unterschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass Instrumentalisten kraft ihrer Persönlichkeit und in Union mit ihrem Instrument so stark, so ausdrucksstark werden können. Und das, ohne einen präzis vorgeschriebenen Text. Und es war die für mich vielleicht wichtigste Erkenntnis, dass es möglich ist, in einer Gemeinschaft zu einer musikalischen Aussagekraft zu kommen, die sich aus der Gemeinsamkeit, aus einer gemeinsamen Erfahrung ergibt, die über das hinausgeht, was der traditionelle Musiker leisten kann und leisten mag. Der Musiker wird unsicher, wenn er keinen genauen Text hat. Die Arbeit von einer solchen Gruppe wie Hampel ist ein Beispiel, ein Meilenstein, in dem Sinne, dass sie uns zeigt, dass die Instrumentalisten – alle Instrumentalisten – in Zukunft viel mehr aus sich herausgehen sollten, und dass sie das Beamtenhafte vergessen, das ihnen sonst anhaftet. Sie sollten sich also mit ihren Körpern, mit ihrem Image, in ihrer physischen, seelischen und intellektuellen Ganzheit in den Prozess des Musizierens werfen können. Und es gibt noch sehr viel Arbeit auf diesem Gebiet, um überhaupt das zu erreichen, was den Menschen möglich ist, sich mit etwas zu identifizieren. Und das ist wiederum eine soziologische und damit politische Frage. Man kann die Dinge kaum voneinander trennen, es geht sehr Hand-in-Hand.“
„Einige Komponisten der Neuen Musik, etwa Penderecki und Stockhausen, machten früher in ihrer Jugend Jazz. Penderecki zum Beispiel spielte Dixieland-Posaune, Stockhausen Varieté-Piano. Habe Sie selbst früher aktiv irgendwie Jazz gemacht?“
„Nein. Ich kann kaum Instrumente spielen, leider. Ich spiele nicht sehr gut Klavier, ich habe Schlagzeug ein bisschen studiert. Aber ich habe nie so etwas aktiv gemacht.“
„In verschiedenen Werken von Ihnen, zum Beispiel in der 3. Symphonie, in ‚La Cubana‘ und in der Radiooper ‚Das Ende einer Welt‘, haben Sie Saxophone, Jazztrompeten und Jazzposaunen einbezogen. Sind da absichtlich Kontakte zum Jazz durch die Instrumentation geschaffen worden?“
„Ja. Sie erwähnten Stücke, die – abgesehen von ‚La Cubana‘ – sehr kurz nach dem Krieg geschrieben wurden, als der amerikanische Jazz zu uns kam, der etwas ganz Neues bedeutete, was wir gar nicht kannten. Ich war besonders fasziniert von Stan Kenton damals. Das merkt man auch ganz deutlich an meiner Oper ‚Boulevard Solitude‘ und an einem kleinen, kaum bekannten, mit Jazz vollkommen durchwachsenen Ballett. Es heißt ‚Labyrinth‘, und neuerdings ist bei der Decca eine Schallplatte davon gemacht worden. Da kann man es nochmals rekonstruieren. Aber die Versuche, diese Dinge zu verflechten, sind in meiner Arbeit, muss ich schon sagen, nicht sehr zahlreich gewesen. Ich glaube, dass den Jazz in mein eigenes Idiom verarbeitet und ihn kaum als Fremdkörper benutzt habe. Abgesehen davon, dass ich ihn einmal absolut kontrastiere mit der Musik, die im Orchestergraben gespielt wurde, nämlich in dem mit Luchino Visconti zusammen gemachten Ballett ‚Maratona‘. Allerdings war da nicht professioneller Jazz gemeint, sondern ich musste versuchen, einen weitgehend schriftlich fixierten Ton von schlechtem italienischem Vorstadt-Jazz zu erzeugen. In ‚La Cubana‘ steht all das, was Tanzmusik betrifft, sehr in Anführungsstrichen, es ist umgesetzt, sehr überhöht in eine Sphäre von Zitat und Parodie, die fast etwas Symphonisches hat im Sinne vielleicht des Gebrauchs von Tanzmusik bei Gustav Mahler. Und der Jazz spielt dabei auch eine sehr kleine Rolle, viel wichtiger ist da, die lateinamerikanische Tanzmusik: Habaneras, Rumbas und so weiter.“