Die Frage nach Selbsterkenntnis als Bedingung, den Sinn des Lebens zu erkennen, auch die Frage nach der Rolle, die man auf der großen Bühne des Welttheaters spielt, wo alles ohne Probe läuft, beschäftigte den Dirigenten Roland Böer in seinem nunmehr vierten Jahr als künstlerischer Leiter des Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano. Das gewählte Motto, „Vita, Morte, Meraviglie‘“ knüpft an eine idiomatische Redewendung im Italienischen an, mit der man ausdrückt, jemanden oder etwas durch und durch, in- und auswendig zu kennen. Wörtlich reflektiert, wird der Spruch zum tiefgründigen Thema über Kunst und Leben, mit Blick auf vielerlei Wunder in der Spanne zwischen Leben und Tod.
Zum zehnten Mal wirkt Böer bereits als musikalischer Leiter des Cantiere. Zunächst stand er dem Komponisten und ehemaligen Henze-Schüler Detlev Glanert zur Seite: „Zusammen waren wir voller Tatendrang, Henzes Grundidee neu zu beleben und weiter umzusetzen“ – sagte Böer, der an den bedeutendsten Häusern der Welt arbeitet und dennoch Jahr für Jahr nach Montepulciano kommt, um eine künstlerische Utopie mitzugestalten und am Leben zu erhalten. Eine Gage bekommt hier niemand. Für Transport, Unterkunft und Verpflegung wird gesorgt, ganz im Sinne von Henze, dem es nicht um Profit ging, sondern ums Prinzip: Alle, ob „Weltstar“ oder Musikschüler, sollen freiwillig kommen und unter den gleichen ökonomischen Bedingungen arbeiten, aus Liebe zur Sache. Nicht einmal die Kompositionen werden honoriert.
„Seine Möglichkeiten mit allen anderen teilen“ wollte Henze von Anfang an durch das „Cantiere“ – was so viel bedeutet wie „Werkstatt“ oder „Baustelle“: „Das kleine Bergnest, voller wunderbar schweigender Architektur, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen“, schrieb der Komponist in seinem Memoiren, „das wollte ich nun in eine aufregende Werkstatt verwandeln, die von aller Welt dermaßen anziehend gefunden werden sollte, dass Montepulciano zu einem internationalen Zentrum für angewandte Didaktik werden würde, ein Modellfall für moderne, demokratische Kunsterziehung und -übung.“ Dieser Traum hat bis heute, nicht ohne Schwierigkeiten, überlebt.
Dafür musste eine kontinuierliche Arbeit mit der jüngeren Generation gesichert werden. Gastón Fournier-Facio leitete seit 1976 die Musikschule in Montepulciano, die zwar seit mehr als zweihundert Jahren existierte, aber im Grunde nur noch aus der Blaskapelle bestand. 1980 gab es einen ersten musikalischen Höhepunkt mit der Uraufführung von Henzes Oper „Pollicino“, eigens konzipiert für die damaligen Aufführungsmöglichkeiten der Kinder. Dieses Prinzip machte dann Schule, bis heute wird in Montepulciano immer wieder Musik für Kinder komponiert. Dennoch gab es dort 1989, als Detlev Glanert und Luciano Garosi die Leitung der Musikschule übernahmen, nur vier Lehrer und etwa dreißig Schüler. Heute zählt das „Istituto di Musica Hans Werner Henze“ knapp tausend Schüler und 44 Lehrer, mit Unterricht für alle Instrumente, gebündelt in kleinen Ensembles und zwei Orchester.
Davon wird das „Orchestra Poliziana“ immer in die Cantiere-Projekte eigebunden, beispielsweise in diesem Jahr bei der Produktion von Domenico Cimarosas Oper „L’impresario in angustie“ unter der musikalischen Leitung von Roland Böer. Im bezaubernden Renaissancetheater von Montepulciano gelang es dem jungen Orchester zusammen mit Gesangssolisten, die am Conservatorio „Luigi Cherubini“ in Florenz studieren, in nur zwei Wochen eine berührende Aufführung auf die Beine zu stellen. Die Regie von Caterina Panti Liberovici, das Bühnenbild von Sergio Mariotti, die Kostüme von Alessandra Garanzini und die poetisch-suggestive Choreographie von Gal Fefferman haben dabei glücklich mit den jungen Sängern zusammengewirkt. Diese Oper und ihre „höchste ästhetische Herrlichkeit der Musik“ hatte 1786 in Neapel Goethe dermaßen beeindruckt, dass er sie dann für das Hoftheater in Weimar übersetzt und bearbeitet hat. In Montepulciano erweiterte nun die Regisseurin die ursprüngliche Handlung der „Farsa per musica“ über die Nöte eines Impresarios um eine bitterernste Rahmenhandlung: Mit Texten von Luigi Pirandello, Johann Gottlieb Stephanie und Giorgio Strehler spielte Cristian Maria Giammarini die Rolle eines Regisseurs, der ganz im Sinne des Cantiere-Themas über den Ernst der Kunst nachsinnt.
Das Programm aus 56 Veranstaltungen, darunter Mischformen aus Tanz, Straßentheater und Musik, große Symphoniekonzerte sowie Kammermusikveranstaltungen, Orgelkonzerte und Soloabende, wird in diesem Jahr von insgesamt vierhundert Teilnehmern in Montepulciano und der toskanischen Umgebung gestaltet. Eröffnet wurde es mit einer Uraufführung, die zum ersten Mal auf dem Gelände der Burg von Sarteano stattfand, als Zusammenarbeit mit der „Nuova Accademia degli Arrischianti“. Laura Fatini, die Leiterin dieser Theatergruppe, arbeitet seit mehr als dreißig Jahren auf professionellem Niveau mit Laien. Sie konzipierte das Spektakel „Nelle scarpe di Giufà“ – in Giufàs Schuhen – als eine Reise mit verschiedenen Stationen. Darin spürt sie den Wanderrouten humoristischer Geschichten um die Figur mit vielen Namen nach, die ursprünglich Nasreddin Hodscha aus dem dreizehnten Jahrhundert zum Vorbild hatten. In Sizilien trug er den Namen Giufà und startete nun mit einer Tür auf seinem Rücken, die bald Brücke und schließlich rettendes Boot werden konnte, als am Ende verschiedene Varianten seines Selbst in vier Himmelsrichtungen die Frage offenlassen, ob er reist oder flieht. Die farbenreichen Kostüme stammten aus der Hand afrikanischer Migranten. Die Musik schrieb die portugiesische Komponistin Sara Ross, eigens zugeschnitten auf das Können von sechs Kindern aus Montepulciano, vereint unter ihrer Leitung im „Ensemble Giufà“ aus Flöten, Klarinette, Saxophon und Schlagzeug. Atmosphärisch folgte die nachdenklich anmutende Musik den Geschichten und suggerierte in Variationen über einen thematischen Kern den Weg aus unbestimmter Vergangenheit bis in die Gegenwart. So wie alle Darsteller haben auch die Kinder hier merklich gern mitgemacht, der Funke sprang über.
Die Freude, die Hans Werner Henze selbst über die Entwicklungen in Montepulciano um das Cantiere mit allen geteilt hätte, war in diesem Jahr von der Trauer um den nahenden Verlust seiner hinterlassenen Villa in Marino bei Rom überschattet. Alle Bemühungen, das Haus als kulturelles Erbe Europas zu retten und als kulturelle Begegnungsstätte zu erhalten, waren bislang vergeblich. Falls kein Wunder im Sinne einer Umstimmung der deutschen Regierung geschieht, dann geht das Haus, in dem unter anderen Bilder von Renzo Vespignani, Eduardo Arroyo, Lila De Nobili und Rosalie hängen, Ende des Jahres für einen Spottpreis in Privatbesitz über und wird geräumt. Fünfzig Jahre Kulturgeschichte gingen damit für immer verloren.