Im Anschluss an die Probe spreche ich mit dem Dirigenten Dmitri Liss, der bedauert, dass der Chor den in der Partitur einkomponierten Wechsel vom Reich der Lebenden (links bei den Blasinstrumenten) ins Reich der Toten (rechts bei den Streichinstrumenten) nicht physisch vollziehen kann, weil der Platz auf dem Podium dafür fehlt. Das war 2017 in Freiburg und Hamburg mit dem SWR-Orchester auch nicht anders und sollte sich nicht als Standard etablieren, dafür muss ich wohl in Zukunft Sorge tragen.
Anschließend begrüße ich den Intendanten des Orchesters, Alexander Kolotursky, in seinem Büro, und wir tauschen Geschenke aus. Er erhält verschiedene CDs mit der Musik Henzes und zwei von mir herausgegebene Bücher über den Komponisten, und ich erhalte CDs des Orchesters mit traditioneller, klassischer und zeitgenössischer russischer Musik. Der Intendant zeigt mir eine Video-Animation des geplanten Neubaus eines Konzerthauses, entworfen von der 2016 verstorbenen iranischen Architektin Zaha Hadid, das schon in zwei Jahren eingeweiht werden soll. Im Gespräch sind wir uns einig, dass Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen die geeignetsten Mittel sind, unterhalb des Radars politischer und ökonomischer Interessengegensätze Verständigung und Freundschaft zu schaffen, zu pflegen und zu vertiefen.
Direkt danach findet eine Pressekonferenz statt, an der neben dem Intendanten, dem Dirigenten und mir Pavel Krekov, der Vizegouverneur des Oblast Swerdlowsk, Yan Dribinsky von der Agentur Karsten Witt als Übersetzer, der Nachwuchsdirigent Oliver Zeffman aus London und der Künstlerische Direktor des Orchesters, Rustem Khasanov, der das Festival organisiert hat, teilnehmen.
Am Vormittag des 29. November findet die Generalprobe statt, im Anschluss daran ein Treffen mit dem deutschen Generalkonsul für den Oblast Ural-Swerdlowsk, Mathias Kruse, dessen Büro im 28. Stock des Visotsky Business Centers man erst nach unzähligen Sicherheitskontrollen erreicht. Er erzählt, dass 2020/21 ein deutsch-russisches Kulturjahr veranstaltet wird und das Außenministerium zahlreiche Gastspiele deutscher Musiker in Russland finanzieren würde, vorzugsweise solche abseits der Großstädte, und vergisst nicht, mitzuteilen, dass er das Konzert nicht besuchen würde, weil er sich um seine Familie kümmern müsse.
Am Abend wird das Festivals mit dem Konzert feierlich eröffnet, beginnend mit Richard Wagners Tristan-Extrakt Vorspiel und Liebestod. In der Pause gebe ich, gedolmetscht von Yan Dribinsky, eine Einführung in Das Floß der Medusa, das dann den zweiten Teil des Konzertes bildet und tief bewegte, erschütterte Zuhörerinnen und Zuhörer hinterlässt, und ich erhalte viele Dankesbezeugungen für meine Einführung, die ganz offensichtlich sehr geschätzt wurde. Wie immer bei solchen Anlässen, ist der Empfang nach dem Konzert für mich eine wichtige Gelegenheit, mit den Künstlern, in diesem Falle dem Dirigenten des Abends und dem Gast aus London über künftige Projekte zu sprechen. Die Musiker sind animiert und überrascht davon, dass man mit moderner Musik solche Erfolge beim Publikum erzielen kann.
Am Samstagvormittag habe ich ein wenig Zeit, um mir die Stadt anzuschauen, und gehe ins Boris Jelzin-Museum (Jelzin stammt aus Jekaterinburg) - so gewinne ich einen neuen Blick auf die Umbrüche, die mit dem Ende der Sowjetunion einhergingen.
Der Nachmittag ist angefüllt mit Interviews, die ich dem Journalisten Ilya Ovchinnikov von der Zeitschrift Kommersant, Moskau, und der Journalistin eines Radiosenders, ebenfalls aus Moskau, gebe. Abends besuche ich das Konzert des georgischen A-cappella-Chores Mdzlevari, der hoch komplexe geistliche Gesänge und Volksmusik darbietet, und am Sonntag fliege ich über Moskau nach Rom zurück.