aus: 40o Cantiere Internazionale d’Arte Montepulciano, Catalogo a cura di Elena Minetti, Montepulciano 2015
von Michael Kerstan
Hans Werner Henze, Renzo Vespignani, Natascha Ungeheuer
- Künstlerfreundschaften -
Hans Werner Henze war schon immer besonders an Musik, Literatur, Film und Kunst seiner Zeitgenossen, ja an der Politik interessiert, vielleicht weil es während der deutschen Nazi-Diktatur so viele Verbote (kurz: die entartete Kunst) gab. Und er kaufte immer Bilder von jungen Künstlern, oft von Freunden - nicht als Investition, sondern um sie zu unterstützen. Andererseits gibt es zahlreiche Objekte, die dem Komponisten von Malern geschenkt wurden, Skizzen für Bühnenbilder, Figuren oder Plakate. Zuerst waren es Landschaftsbilder unbekannter Maler, dann waren es die jungen Italiener, und später erweiterte sich die Sammlung um internationale Werke - von Carl Timner oder Hans Arp bis Corrado Cagli, von Lila de Nobili bis Bice Brighetto, von Eduardo Arroyo bis Ellsworth Kelly.
Zwei der Protagonisten dieser Ausstellung sind leider nicht mehr hier - Renzo Vespignani und Hans Werner Henze. Die Werke des Malers wurden uns im Haus des Komponisten überlassen, ohne dass wir die Titel der meisten Werke oder gar die verwendete Technik kannten. Die verwendeten Techniken konnten wir in der Regel aus Büchern entnehmen, die über und von Vespignani veröffentlicht wurden, aber die Titel, selbst wenn sie offensichtlich waren, haben wir weggelassen, wenn der Autor sie nicht selbst angegeben hatte.
Natascha Ungeheuer hingegen lebt und arbeitet, was eine gute Nachricht ist. Sie hat zudem ihre Werke fotografiert und betitelt, so dass die Identifizierung eindeutig ist.
Allen dreien gemeinsam ist die Erfahrung des Ersten Weltkriegs in ihrer Kindheit und in der Folge der Hass auf den Faschismus und dessen Derivate (seine Spielarten) - Rassismus, Dogmatismus, Militarismus. Alle drei haben eine erzählerische Phantasie in ihrer DNA, einen Sinn für Theater und praktische Erfahrung in der Theaterarbeit. (Vespignani als Bühnenbildner, Ungeheuer sogar mit Straßentheater, Henze u.a. als Autor von Balletten und Opern). Und den dreien ist es ein wesentliches Bedürfnis, die Leiden der Menschen, die sie teilen, auszudrücken, nein, in die Welt hinauszuschreien, und in ihren Werken die Freude am Leben zu feiern. Oft sind die beiden extremen Gefühle in einem Gemälde oder Werk vereint. Daher ist es nur konsequent, dass der Komponist Affinität, Zuneigung und große Wertschätzung für die beiden Maler empfand.
Henzes erster Aufenthaltsort in Italien war die Insel Ischia (1953-1955). Damals war sie ein kleines Zentrum internationaler Künstler. Hier, noch verborgen vor dem großen Tourismus, lernte er u.a. seinen englischen Kollegen William Walton, den Schriftsteller Heinz von Cramer (Librettist von " König Hirsch") und die Dichter Chester Kallman und W.H. Auden (Librettisten von "Elegy for Young Lovers" und "The Bassarids"), den Bühnenbildner Frederic Ashton (Librettist und Choreograph von " Undine") und viele Maler (u.a. Werner Gilles, der ihm vorgeschlagen hatte nach Ischia zu kommen) kennen. Auf der Insel begegnete er auch Luchino Visconti.
Renzo Vespignani
Visconti hatte bereits ein gemeinsames Projekt für ein Festival in Paris 1956 im Kopf: " Maratona di Danza ", ein Auftragswerk des "Ballets Jean Babilée".
Renzo Vespignani war der von Visconti ausgewählte Bühnenbildner für "Maratona" - das Stück wurde jedoch erst ein Jahr später in Berlin, gleichwohl mit Babilée und seiner Gruppe, auf die Bühne gebracht, weil Henze auf dem Weg nach Paris mit seinem Auto und der noch nicht fertiggestellten Partitur in Lodi verunglückte und sechs Wochen in einem Mailänder Krankenhaus lag.
Ein Berliner Freund, Klaus Geitel, erinnert sich an die Zeit der Uraufführung: "Vespignani richtet sich in den Ateliers des Theaters häuslich ein und malt, weitgehend eigenhändig, das Dekor eines heruntergekommenen, verräucherten Tanzpalastes und fügt ihm mit genauem Auge für Realität Hunderte von sprechenden Requisiten ein."
Der erste Abend in Berlin war ein furchtbarer Skandal. Visconti hingegen strahlte: "Ein großer Erfolg. Ein wahrer Triumph" Unter einem Orkan von Pfiffen und Missbilligungsrufen entsteht die Freundschaft zwischen Maler und Komponist. Aus dieser Zeit stammt die Radierung "Ragazzo di Trastevere", ein Geschenk zur Premiere von Maratona. Vespignani war sehr mit der Interpretation der Umgebung seiner Jugend beschäftigt, d.h. das Leben in Portonaccio, arme, aber stolze Kinder und Jugendliche, die in den Trümmern spielen, einsam und voller Fantasie. Henze hingegen hatte seine Vergangenheit in Nazideutschland und die Nachkriegsrestauration hinter sich gelassen und fand in Italien Optimismus und Zukunft vor, wo er willkommen war. In diesem Zusammenhang kann man seine Vorliebe für Ballett und Oper mit Anti-Helden und tapferen, aber verzweifelten Frauen verstehen. Die beiden hatten, wie bereits erwähnt, ihren Hass auf den Faschismus, unter dem sie persönlich gelitten hatten, und ihre Liebe zur Persönlichkeit und Literatur Pier Paolo Pasolinis gemein.
Vespignani richtete 1985 in Rom eine Gedenkausstellung mit dem Titel Come mosche nel miele (Wie Fliegen im Honig) ein, und Henze hatte Giorgio Battistelli einen Kompositionsauftrag für die dritte Münchener Biennale erteilt, der sich mit Pasolinis Film "Teorema" auseinandersetzen sollte.
Zwanzig Jahre zuvor, 1966, wurde das Haus von Hans Werner Henze und Fausto Moroni in Marino eingeweiht, das sie "La Leprara" nannten, weil es zu Zeiten der Familie Colonna eine Hasenweide war (es heißt, Vittoria Colonna sei dort mit ihrem Freund Michelangelo spazieren gegangen und habe Sonette verfasst). In der Tat malte Vespignani die vier größten Gemälde für den Salon der Villa, der als Konzertsaal gedacht war, also ein fast öffentlicher Ort, der auf diese Weise eine Galerie exklusiv für Vespignani geworden war.
Von der Mailänder Scala wurde er 1968 als Bühnenbildner für Henzes "Bassariden" engagiert. Ein ganz besonderes Jahr und ein ebensolches Stück. Zu Beginn der Studentenrevolte in Europa hatte Henze für die Salzburger Festspiele 1966 eine mythologische Oper komponiert - für die Jungen ein reaktionärer Rückschritt, für die Konservativen eine historische Bestätigung. Der Komponist hörte den Beifall von der falschen Seite. Es war Vespignani, der '68 in Mailand das öffentliche Bewusstsein über dieses Stück korrigierte: Ein Imperium am Rande des Zusammenbruchs, Sehnsucht nach verratener Schönheit, alte Steine gegen die Gewalt der Gegenwart und die Gewalt in der Familie - da entstand die Oper für die Zukunft.
Im politischen Sturm dieser Jahre reflektiert Vespignani die Familie - die Kinder, die Frau, die Mutter - insbesondere die Hände der Mutter scheinen 1969 eine außerordentliche Bedeutung zu haben -, harte Arbeit, Gelassenheit und Güte.
Viel grausamer ist jedoch das Thema, das Vespignani schon immer beschäftigt hat - der Faschismus, ob in Italien, Deutschland oder sonst wo auf der Welt. Für eine Ausstellung in Berlin 1976 schuf er eine Reihe von Gemälden, die die Gewalt, die Grausamkeit, die Barbarei, ja die Eitelkeit der Nazis und den Opportunismus des Volkes in äußerst starken und erschreckenden Motiven zeigen. Henze schrieb für die Ausstellung eine Einleitung, ein Bekenntnis des Respekts und der Freundschaft, das zur Eröffnung der Ausstellung veröffentlicht wurde, und eine weitere für eine Mappe anlässlich eines Festivals im Jahr 1986, das dem Komponisten anlässlich seines 60. Geburtstags gewidmet war - die FrankfurtFeste in der Alten Oper in Frankfurt.
Verspignani hatte eine Mappe mit Bleistiftzeichnungen angefertigt, die später in 100 Exemplaren gedruckt wurde und die Biografie seines Freundes widerspiegelt - seine Kindheit im Nationalsozialismus mit einem Foto seiner Eltern in der Mitte, der Künstler, der unter einer italienischen Statue dirigiert, und sein Kopf, immer nachdenklich, streng, mit tiefliegenden Augen, die einen aus jedem Winkel des Raumes zu betrachten scheinen. Für diese Mappe fügte Henze außerdem den bereits erwähnten Text über Vespignani und fünf autographe Reproduktionen des Gitarren- und Orchesterkonzerts "an eine Äolsharfe" hinzu - dies war ein Auftrag des Festivals.
Natascha Ungeheuer
1972 komponierte Hans Werner Henze auf ein Gedicht von Gastón Salvatore ein Stück für Podiumstheater (wie zuvor schon El Cimarrón), d.h. ohne die Notwendigkeit eines Theaters mit Bühne, Seitenbühne, Orchestergraben oder Kulissen: Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer.
Das Spielfeld des Perkussionisten liegt hauptsächlich zwischen Autowracks. Er kann das Material selbst organisieren und auch einige Instrumente in die Karosserien einbauen. Das Klangmaterial, das aus den Wracks entnommen werden soll (und der Einbau von Fremdelementen), besteht aus Stahl, Aluminium, Gummi, Holz, Glas und Leder. So werden 'objets trouvés' in Kunstwerke verwandelt. Für eine Aufführung werden ein Bariton und sechzehn Musiker benötigt, darunter auch ein Jazz-Ensemble.
Salvatore kannte die Malerin nicht, als er das Gedicht schrieb, auch Henze nicht, als dieser es komponierte. Im Jahr der Veröffentlichung seiner Autobiographie war er sich jedoch sicher, dass Natascha Ungeheuer existiert. Sie lebt in Kreuzberg (Berlin). Das Einzige, was sie mit der Figur in der Oper gemeinsam hat, ist ihr Name, den Gastón Salvatore zufällig erfuhr und dann als Metapher verwendete.
In den (politisch linken) Studentenkreisen der 68er war der Name "Ungeheuer" sehr beliebt, und wenn man zu ihr nach Hause eingeladen wurde, erfüllte das einen immer mit Stolz.
In Henzes Stück sucht ein Student die Wohnung der Ungeheuer in Kreuzberg (Berlin), die er nie findet. Er weiß nicht einmal, wer Natascha U. war, vielleicht eine Sphinx, die er nach der Zukunft oder der Utopie persönlich befragt, oder das Gegenteil, in ihrem Haus sind die Liebhaber, Junkies, Schwächlinge? Das Stück ist ein großartiges Bild von Berlin und die Ungeheuer wölbt sich über allem.
e real existierende Malerin, die diesen Namen trägt, war nicht sehr glücklich darüber, dass ihr Name für Theaterstücke missbraucht wurde, und es dauerte 15 Jahre, bis sie einen Besuch von Henze akzeptieren und ihn kennen lernen konnte. Er war fasziniert von ihren Illustrationen zur Christian Morgenstern-Ausgabe „Es läutet beim Professor Stein“, kannte er doch einige Morgenstern-Gedichte seit Jahrzehnten auswendig.
1987 fuhr er zu ihr nach Berlin mit einem riesigen Rosenstrauß, und er verliebte sich sofort in ein großformatiges Gemälde: Der Wartesaal, auf dem es so viele wartende Menschen zu sehen gibt, die fast ausnahmslos traurig aussehen und wie von Sorgen, Heim- und Fernweh gequält“. Er kaufte es sofort und stellte es in seiner Wohnung in München aus, die er für die Arbeit an der Münchener Biennale: Internationales Festival für neues Musiktheater gemietet hatte.
Sieben Jahre später kaufte Fausto Moroni ein weiteres Bild von ihr: "627 Tage bis zum Ausbruch des Vulkans" als Weihnachtsgeschenk. Und Henze schrieb an Ungeheuer: "Sie sind schon eine großartige Geschichtenerzählerin".
In seinem letzten Brief an sie, im Januar 2012, bestätigt er noch einmal, dass die Bilder lebendig geblieben sind, als wären sie neu, dass so viele Künstler, die sie angeschaut haben, voller Freude waren und so viele sie bewunderten.... "Ich nehme an, dass Sie weiterhin Ihre Phantasie und Ihre so menschliche Freundlichkeit und Wärme in die Welt schicken und dass viele Betrachter angerührt sein werden von Ihrem so gedankenreichen Tun."