Erst im vorigen Jahr sei ein Interessent „in letzter Minute“ abgesprungen, berichtet Kerstan. Zuvor sei auch Kontakt zur deutschen Politik aufgenommen worden, etwa zur Bundesbehörde für Kunst und Medien (BKM) sowie zum Aussenministerium – bis jetzt ohne Erfolg. Im durchaus vergleichbaren Fall der Villa von Thomas Mann in Kalifornien war das ganz anders: Vor knapp drei Jahren kaufte die deutsche Bundesregierung die Villa des Schriftstellers, um einen Verkauf und den drohenden Abriss abzuwenden.
Inzwischen ist aus der Mann-Villa in Pacific Palisades eine Begegnungsstätte geworden. Für sein Anwesen in Marino hatte Henze genau das im Sinn. Aus seinem geliebten Refugium wollte er eine Art zweite Villa Massimo entstehen lassen – eine Begegnungsstätte für junge Komponisten, einen Ort und eine Werkstatt der Musik nach dem Vorbild der bekannten deutschen Kulturakademie in Rom. Auch mit der Villa Massimo sei man in Kontakt getreten, so Kerstan – ebenfalls ohne Erfolg. Im Fall Henzes tut sich die Politik offenkundig schwer, obwohl er für das Musik- und Kulturleben der Nachkriegszeit eine zentrale Position innehatte.
„In Deutschland scheint es wenig Verständnis dafür zu geben, wer Henze war und welchen Rang er hatte“, folgert Kerstan und wirkt dabei ziemlich ernüchtert. Dabei kann die Stiftung auf beachtliche Erfolge verweisen, wenn es um die Verwaltung des Schaffens von Henze geht. Jedenfalls werden jährlich im Durchschnitt rund 150 Aufführungen von Instrumentalwerken Henzes realisiert. Den Schwerpunkt bilden vor allem grösser besetzte Gattungen wie die Sinfonien, in der Kammermusik gibt es hingegen noch erheblichen Nachholbedarf.
Überdies steht an den nächsten Osterfestspielen in Salzburg die postume Uraufführung von Henzes Opus 1 an, eine Konzertmusik für Solovioline und Kammerorchester. Die Witwe von Kurt Stier, einem früheren Konzertmeister des Bayerischen Staatsorchesters in München, hatte das Manuskript im September 2017 der Stiftung übergeben. Im selben Rahmen wird 2020 in Salzburg zudem eine Einrichtung der Kammeroper „La piccola Cubana“ für Kammerensemble uraufgeführt – ein Projekt, das Henze mit Hans Magnus Enzensberger entwickelt hatte.
In der Regel werden heute weltweit pro Saison etwa drei Neuproduktionen von Henze-Opern gestemmt, auch dies eine durchaus staunenswerte Bilanz. Zuletzt hatten zwei Opern nach Libretti der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann Premiere, nämlich „Der Prinz von Homburg“ nach Heinrich von Kleist an der Staatsoper Stuttgart sowie „Der junge Lord“ am Gärtnerplatztheater in München. Die Stoffe weisen Henze als hellsichtigen Gesellschaftskritiker aus, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Während sich der „Prinz von Homburg“ um den Widerspruch von Staatsräson und Menschlichkeit dreht, wird im „Jungen Lord“ die Angst vor Fremden vorgeführt. Man mag über die recht harmlosen Inszenierungen von Stephan Kimmig in Stuttgart und Brigitte Fassbaender streiten. Aber auf musikalischer Ebene werden hier starke Diskurse geführt. Namentlich die Intensität von Robin Adams in der Titelpartie des Prinzen bleibt in Erinnerung. Und Anthony Bramall gelingt mit dem Münchner Gärtnerplatz-Orchester genau das, was Cornelius Meister am Pult des Stuttgarter Staatsorchesters nicht glücken wollte – eine beispielhafte Balance zwischen zupackender, auch karikierender Schärfe und der für Henze so typischen Klangsinnlichkeit. Immerhin wurde die Stuttgarter Neuproduktion mitgeschnitten, auch dies wird der Verbreitung von Henzes Schaffen fraglos dienlich sein.
Was bleibt, ist die brennende Frage nach der Zukunft des Komponistenanwesens in Marino. Dabei gäbe es dafür so zahlreiche interessante Modelle. So ließen sich etwa auch die Münchener Biennale für neues Musiktheater einbinden oder die Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano – beides Festivals, die einst von Henze gegründet worden waren.
Fest steht: Noch ist das Anwesen in Marino im Originalzustand erhalten – übrigens im Unterschied zur Mann-Villa in Kalifornien oder auch zu den überwiegend rekonstruierten Komponistenhäusern von Bach, Mozart, Mendelssohn und Schumann. Sollte keine Lösung gefunden werden, droht der Verfall eines Kulturdenkmals erster Güte. Für die Musikwelt ein herber Verlust, für die angebliche Kulturnation Deutschland aber eine veritable Blamage.