Urfassung der Royal Winter Music auf CD und als Notenausgabe

Nachdem im November 2022 die Einspielung von Henzes Royal Winter Music durch Marco Minà online verfügbar war, ist nun endlich die lang erwartete CD erschienen, ergänzt um ein umfangreiches Booklet und eine höchst informative Dokumentation auf DVD.

Marco Minà lernte den Komponisten Hans Werner Henze 1990 kennen, und obwohl die beiden in unmittelbrer Nähe zueinander wohnten, erwies sich dies als höchst kompliziert. Minà hatte am Konservatorium "G. Verdi" in Mailand Gitarre studiert und schloss sein Studium der Ästhetik und Musikgeschichte an der Universität "La Sapienza" in Rom ab. Zu dieser Zeit arbeitete er an seiner Dissertation über die Royal Winter Music, die er damals schon mehrfach aufgeführt hatte, und ihm drängten sich einige Fragen auf. Als er das Werk dem Maestro vorspielte, erzählte er ihm von seiner Verwunderung über einige ganz offensichtlichen "Fremdkörper" in der gedruckten Partitur. Diesem ersten Treffen folgten viele weitere sowohl in der Villa La Leprara, Henzes Wohnsitz in Marino, als auch in London, wo Henze unter anderem die Sonate II in Minàs Interpretation in St. Martin-in-the-Fields hörte. Danach war der Gitarrist häufiger und gern gesehener Gast bei Konzerten auf La Leprara.

Wie andere Kollegen vor ihm auch studierte Minà bei der Planung der Aufnahme gründlich das Autograph der Royal Winter Music in der Paul Sacher Stiftung zu Basel. Aus dem geplanten eintägigen Studium wurde eine ganze Woche intensiver Arbeit, denn beim Durchsehen des Manuskripts machte der Gitarrist sensationelle Entdeckungen, beginnend mit der Vertauschung des dritten und vierten Satzes, Ariel und Ophelia, in der Sonate I. Er fand noch über 300 weitere Änderungen, die Julian Bream - dem die Sonaten gewidmet waren – an der Partitur vorgenommen hatte und die teilweise die Atmosphäre der Musik und den Charakter der dargestellten Shakespeare-Figuren entscheidend veränderten. Es handelte sich also um gravierende Eingriffe in die dramaturgische und narrative Architektur von Henzes Musik. Oft waren die Noten so verändert worden, dass die ursprüngliche musikalische Struktur teilweise nicht mehr erkennbar war.

Anlässlich des zehnten Todestages von Henze im Oktober 2022 konnte man die Einspielung schon online hören. Nun ist, unter der Schirmherrschaft der Hans Werner Henze-Stiftung und der Paul Sacher-Stiftung sowohl die CD bei Novantiqua als auch die neue kritische Druckfassung, für die ebenfalls Marco Minà (und, für die 2. Sonate, Otto Tolonen) verantwortlich zeichnet, bei Schott erschienen. Die CD enthält ein Booklet mit Fotos von Fabio Mantegna, die in der Villa La Leprara aufgenommen wurden, und eine etwa zweistündige DVD, die der Regisseur Gianmarco Santoro in dem von Henze erbauten Landhaus vor den Toren Roms, gedreht hatte. In dieser Dokumentation sprechen Marco Minà und Michael Kerstan über Henzes Leben, das mit den Orten, der musikalischen Produktion und den Begegnungen des Komponisten verwoben ist. Der Film unterstreicht auch die Dankbarkeit für eine so wichtige und wertvolle Freundschaft.
Nach der Präsentation dreier Sätze aus dem Werk in Montepulciano im Juli 2022 fand nun eine größere öffentliche Erstaufführung mit Marco Minà im Januar 2023 in Basel (Gare du Nord) statt, kuratiert von der Paul Sacher-Stiftung.