“Lieber Bürgermeister, liebe Damen und Herren,
ich danke Ihnen sehr für den kostbaren Preis, den “Grifo poliziano”, den Sie Maestro Hans Werner Henze zuerkannt haben. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die mir vor zwei Jahren passiert ist. Auf Turks and Caicos, einem kleinen karibischen Archipel unweit von Cuba, besuchte ich einen alten Freund des Maestro, den Kanadier Claude Giroux, der von 1976 bis 1980 den Cantiere großzügig unterstützt hatte. Sein Frau, die Sängerin Maureen McNally, die leider vor 10 Jahren verstorben ist, wirkte in diesen ersten Cantiere-Jahren häufig und bei wunderbarer Stimme mit. Am Ende meines Aufenthaltes suchte ich im einzigen Lebensmittelgeschäft der Insel ein kleines Geschenk für Claude. Und was fand ich dort am Ende der Welt? Wein aus Chile, Argentinien, Frankreich und drei verschiedene Sorten des Vino Nobile di Montepulciano. Diese habe ich Claude geschenkt, und er war überglücklich – er erinnerte sich an jede Einzelheit aus der Zeit, die er in Montepulciano verbracht hatte und meinte, dass vor 40 Jahren dieser exzellente Wein nirgendwo in Amerika, umso weniger auf der Insel Turks and Caicos aufzutreiben war. Ich erwiderte, dass es vielleicht damals nicht einmal einen Laden auf dem Inselchen gab, aber es stimmt schon: Außerhalb Italiens war der Nobile unbekannt, höchstens ein paar Weinkenner wussten ihn zu schätzen. Vierzig Jahre nach der Gründung des Cantiere Internazionale d'Arte hat der Vino Nobile die Welt erobert und ist ein wichtiger Exportartikel Italiens geworden. Ich behaupte nicht, dass allein die Berühmtheit des Cantiere den Wein bekannt gemacht hätte, ausschlaggebend dafür war auch die Rolle der Künstler, die nach Montepulciano kamen und die Flaschen mit nach Hause nahmen, sie gemeinsam mit Kollegen und Freunden genossen und stets wieder hierher kamen, um den Sommer bei Wein und Musik zu verbringen. Mit der zunehmenden Attraktivität und Bekanntheit des Cantiere wurden Werkstätten und Läden eröffnet, die Kunsthandwerk herstellen und vertreiben, neue Restaurants, Hotels und Agritourismus-Betriebe sind entstanden. Man mag vielleicht von einer langsamen Entwicklung sprechen, aber nachhaltig ist sie allemal, dort, wo vorher nur Rezession und Depression herrschten.
Maestro Henze hat nicht nur den Vino Nobile im Ausland bekannt gemacht, sondern er hat auch zahlreichen italienischen Musikern, Dirigenten und Komponisten bei ihrem internationalen Durchbruch geholfen. Riccardo Chailly und Gian Luigi Gelmetti, um nur zwei Dirigenten zu nennen, haben ihre Weltkarriere hier beim Cantiere begonnen. Die Komponisten Giorgio Battistelli (auch er war eine zeitlang Künstlerischer Leiter des Cantiere), Lorenzo Ferrero, Marco Stroppa, Ada Gentile und Lucia Ronchetti erhielten von Henze Kompositionsaufträge, in Österreich und bei der bedeutenden Münchener Biennale, dem Internationalen Festival für Neues Musiktheater. Henze hat italienische Bühnenbildner und Maler an Häuser in Österreich, Deutschland und den USA empfohlen, darunter Renzo Vespignani, Filippo Sanjust, Lila de Nobili oder Nanà Cecchi. Hingegen hat der Maestro von Luchino Visconti, dem engen und wichtigen Freund, viel über das Regiehandwerk gelernt, über guten Geschmack und künstlerische Genauigkeit. Oft sprach er über Viscontis Inszenierung der Traviata in Mailand mit Maria Callas in der Hauptrolle; für ihn blieb jene Produktion zeitlebens ein strahlender Stern am Regie-Himmel.
Obwohl er bereits seit 1953 in Italien lebte (nach dem fulminanten Erfolg seiner Oper “Boulevard Solitude” konnte er sich erlauben, eine feste Arbeitsstelle aufzugeben), erhielt Henze seinen ersten Kompositionsauftrag in Italien erst im Jahr 2010, anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des römischen Nationalorchesters von Santa Cecilia. Doch einen anderen Auftrag dürfen wir nicht vernachlässigen: denjenigen der Kinder von Montepulciano, die 1980 zu ihm nach Marino fuhren und um eine neue Kinderoper baten. Er verschob sofort eine (bezahlte) Arbeit für das Württembergische Staatstheater in Stuttgart um zwei Jahre und begann mit der (unbezahlten) Komposition von “Pollicino”. Und mit diesem Stück, mit einem Libretto von Giuseppe di Leva, das von italienischen, französischen und deutschen Märchen inspiriert und von psychoanalytischer Tiefe ist, gelang es, ein Modell für heutige Kinderoper zu schaffen, und auch dieses trägt den Namen und die Reputation Montepulcianos bis heute hinaus in die Welt. Allein in den nächsten Monaten gibt es drei Neuinszenierungen von “Pollicino”, in Linz (Österreich), Sankt Gallen (Schweiz) und Turin (Italien).
Hinter diesen Engagements – für Montepulciano, für die Kinder, die Künstler stehen eine unermessliche Großzügigkeit und Menschlichkeit, die Henze stets ausgelebt hat, eine künstlerische Idee, dass die Künstler aus den Elfenbeintürmen heraustreten und wirkliche Menschen treffen müssten, die Musik müsste sich mit der Wirklichkeit infizieren – das ist die Idee der “musica impura” - und die Künstler werden Teil der Gesellschaft, was bedeutet, dass sie die politische und soziale Relevanz ihrer Arbeit für das Gemeinwohl untersuchen und im Blick behalten.
Dies genau ist das Vermächtnis und die Aufgabe, die Hans Werner Henze uns Künstlern hinterlassen hat.
Danke.
Michael Kerstan
Vorstand und Stiftungsrat der Hans Werner Henze-Stiftung