Anschließend gab es eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Neue Musik in der Provinz“, nach welcher der Komponist von einigen Jugendlichen angesprochen wurde. In seiner Autobiografie Reiselieder mit böhmischen Quinten schreibt er, dass diese jungen Menschen
„mir bedeuten wollten, dass die wirklichen hiesigen kulturellen Belange oder besser: Bedürfnisse nicht so sehr bei der örtlichen Bürgerschaft als bei ihnen, den arbeitslosen Jungarbeitern, aufgehoben seien. Sie aber kämen sich so vor, als habe man sie auf ein Abstellgleis geschoben und vergessen. Sie fordern Kultur, wollen, dass man auf sie und ihr Problem aufmerksam wird. Sie wollen die Dinge des Lebens auf ihre Art beurteilen und darstellen, anders als es den Kulturträgern des Eisenbahnknotenpunkts angenehm sein mochte. Ob ich bereit sei, ihnen dabei zu helfen. Ich war es.
Nun reiste ich alle paar Wochen und Monate an, um mit diesen jungen Leuten zu arbeiten. Gemeinschaftlich entstand eine Geschichte. Sie kam direkt aus dem Leben, sie handelte von den Sorgen und Komplikationen in der Arbeiterwelt und bei denen, die keine Arbeit mehr hatten. Es waren gerade im Mürztal die staatlichen Edelstahlwerke geschlossen worden, die einmal vielen Leuten Arbeit und Brot zu garantieren schienen.
In unserem Stück wurde die – bewusst überzeichnete – Darstellung einer Bürgerinitiative daraus: Man blockiert die Autobahn, man setzt das Mürztal unter Wasser. Die Regierung hat eine Lösung: Sie beschließt, die Streikenden auf den Mond zu schießen, wo sie eine Gesellschaft ganz nach ihren Vorstellungen aufbauen können. Oder so ähnlich, es war bitter und sarkastisch gemeint.
Wir dramatisierten diese Geschichte, reimten Liedertexte, lernten, sie in Musik zu setzen, und ließen dabei ganz behutsam nach und nach die Klischees der Rockmusik beiseite, ersetzten sie durch Selbstgemachtes. Ein Jahr später sollte das Resultat in Form der Rockoper Sperrstund in einem Wirtshaussaal in Szene gehen, anlässlich der „Mürztaler Musikwerkstatt“, wie meine Initiative nun genannt wurde, zu der auch eine ganze Anzahl weiterer Veranstaltungen gehörte.
Ich brachte meine Kölner Schüler mit und gab ihnen zweckgebundene kompositorische, organisatorische und interpretatorische Aufgaben. Alles drehte sich um steirische Gegenwartsfragen, Geschichte(n) und Kunst. Mit diesen neuen Themen und Aufgaben versehen, kehrte ich nach Marino zurück, eine kleine Melodie pfeifend, die später in die Cat-Musik eingehen sollte, als Oberstimme der Celesta, die im Epilog der Oper die finale Villanella Louises, der Maus, begleitet.“
(Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt/Main (S. Fischer) 1996, S. 479 f.)
April 1982:
„Ich studierte das Krankheitstagebuch des Mürztaler Arbeiterdichters Buchebner, dessen Name der Mürzzuschlager Kunstverein auf seine Fahnen geschrieben hat. Las Karl Kraus’ Ausführungen über den Mürzzuschlager Fall Hervay: Da hat doch tatsächlich 1904 die örtliche und dann auch die überregionale Presse sich eine jüdische Mitbürgerin vorgeknöpft, die Ehefrau des Bezirkshauptmanns Hervay, und sie unter dem Verdacht des Ehebruchs angeprangert, mit so viel Häme und Ehrlosigkeit, bis der Bezirkshauptmann keinen anderen Ausweg mehr wusste als den, sich zu entleiben. Ich beabsichtigte, dem Kunstverein vorzuschlagen, diese Geschichte auf der nächsten Mürztaler Musikwerkstatt zum Gegenstand einer szenisch-musikalischen Gemeinschaftsproduktion zu machen, unter großer Beteiligung der Bevölkerung, aber sollte damit dann doch auf resolute Ablehnung stoßen. In der zweiten Aprilhälfte war ich wieder dort, um im Keller der Volksschule ein verlängertes Wochenende lang mit den jungen Wilden zu dichten und zu musizieren. Man hatte mir gute Assistenten zur Verfügung gestellt, herausragend der Harri Huber aus Wien, ganz wichtig auch der Mürztaler Volkswirtschaftsstudent und Lyriker Hubert Höllmüller, der Hölm, mit dem ich mich auch heute noch zuweilen treffe.“
(H. W. Henze: Reiselieder …, S. 484)