Der in Deutschland geborene Komponist Hans Werner Henze lebt in Marino bei Castel Gandolfo. Allerdings war Henze, der diesen Sommer 80 Jahre alt wurde, nie ein Musik-Papst. Er gilt sicherlich als einer der bedeutendsten Komponisten der Nachkriegszeit, doch kann man nicht behaupten, dass er eine Schule gegründet hat, und schon gar nicht hat er die Rolle eines künstlerischen Oberpriesters übernommen, wie einige seiner Kollegen und Zeitgenossen es versuchten. Im Gegenteil, er wurde oft von denen angegriffen, die ihn aufgrund der modernistischen Reinheitsanforderungen der Zeit für einen Abtrünnigen hielten.
Es ist ein warmer Tag in Henzes Haus in Marino und es ist Zeit, sich auf die schattigere Terrasse auf der anderen Seite des schönen Hauses mit seinen fantastischen Gärten zu begeben. Henze bewegt sich langsam durch die Räume des Hauses, in dem er mit Fausto lebt, der seit ihrer Begegnung in Rom in den 1960er Jahren sein unzertrennlicher Partner ist. Man hilft ihm in einen Korbsessel und stellt ihm ein Glas Guinness zur Seite.
Sie leben nun schon seit einem halben Jahrhundert in Italien; gab es schon immer eine Sehnsucht nach hier oder war es eher um eine Sehnsucht weg von dem Deutschland, in dem Sie aufgewachsen sind?
“Beides. Aber als ich mich fragte, wohin ich wollte, kam mir zuerst Italien in den Sinn. In Deutschland war die italienische Kultur durch Literatur und Kunst präsent. Und ich liebe die italienische Sprache.” (Er antwortet nachdenklich, wägt die Worte ab. Die Augen sind vollständig hinter der dunklen Brille verborgen.)
Denken Sie noch an die schwierige Zeit in Deutschland, als Sie jung waren?
“Manchmal erinnere ich mich an Dinge... Episoden... die schmerzhaft und brutal waren. Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen, ich war selbst Soldat wider Willen und habe schreckliche Dinge erlebt, die mich vor Abscheu schaudern ließen. Jeden Tag bin ich Italien dankbar, dass es mich hier aufgenommen hat. Aber viele Komponisten meiner Generation haben sich der deutschen Ästhetik verschrieben, und nach dem Krieg bot Deutschland jungen Komponisten Treffpunkte wie die Darmstädter Ferienkurse.”
Sie waren in den späten 1940er Jahren auch in Darmstadt, aber in vielerlei Hinsicht scheint sich die Nachkriegsavantgarde weit von Ihrem eigenen Verständnis von Musik und dem Zweck von Musik entfernt zu haben?
“Ja, meine Kollegen hassten meine Einstellung. Dazu trug bei, dass ich Opern schrieb und das Theater über alles andere stellte. Die Oper galt als reaktionär. In einem berüchtigten Interview sagte Pierre Boulez, man solle alle Opernhäuser in die Luft jagen.”
Man hat Sie eher abwertend als „Postmodernist“ bezeichnet, was wahrscheinlich auf Ihre Art und Weise zurückzuführen ist, verschiedene Stilmittel zu vermischen?
“Ich habe diese nicht immer akzeptierte Liebe zu den Klassikern. Dazu gehört, dass ich auf Musik aus dem 18. und 19. Jahrhundert anspielen kann, um zu verdeutlichen, was ich an Neuem zu sagen habe. Dafür verwende ich musikalische Beispiele, in direkten und indirekten Zitaten.”
Ist das eine Technik, die Sie gerne anwenden, das Neue in Relation zur Tradition und zu den Vorgängern zu setzen?
"Es ist ein Bedürfnis, das ich schon immer verspürt habe, es ist wie ein Suchscheinwerfer, der den Weg ins Unbekannte weist. Die Tradition ist sehr wichtig. Komponisten sind, wie bildende Künstler und natürlich Schriftsteller, Geschichtenerzähler. Wir müssen unterhalten, wir sind angehalten, Geschichten zu erzählen. Früher war ich mit dieser Ansicht sehr allein, und erst in den letzten 20 oder 30 Jahren habe ich gemerkt, wie sich das geändert hat.
Aus eigener Erfahrung weiß ich auch, dass Orchestermusiker heute viel offener für neue Musik sind. Vor fünfzig Jahren sind neue Partituren immer auf Widerstand und starke Skepsis gestoßen."
Das Komponieren für Theater und Oper bildet seit jeher einen Schwerpunkt, aber auch in Ihrer Instrumentalmusik gibt es Beispiele, bei denen sich hinter der Musik ein Text verbirgt.
“Ja, natürlich. Letztes Jahr wurde in Amsterdam ein neues Werk von mir aufgeführt: Sebastian im Traum (ebenfalls im Rahmen des Komponistenfestivals in der Konzerthalle zu hören). Das Gedicht, auf dem es basiert, ist in der Partitur abgedruckt. Ein Stück Prosa oder ein Gedicht kann eine Brücke zwischen den eigenen Gefühlen und der symbolischen Kraft der Musik schlagen.”
Komponieren Sie momentan?
“Ja, das tue ich. Im Moment bin ich fasziniert von Phaedra. Es wird eine Oper werden. Aber ich war letztes Jahr sehr krank und konnte überhaupt nicht schreiben, und jetzt versuche ich, die nötige Kraft wiederzuerlangen.”
(Das ist eine mühsame Aufgabe. Henze ist offensichtlich von Alter und Krankheit gezeichnet. Letztes Jahr war er eine Zeit lang sehr krank. Jetzt ist er ständig auf Hilfe angewiesen. Die Zahl der Interviews zum 80. Geburtstag, zwei Wochen bevor wir ihn besuchen, ist stark limitiert.
Die Umgebung, in der wir sitzen, ist atemberaubend. Ja, tatsächlich ist „atemberaubend“ eigentlich eine Untertreibung: Ein Haus, das in jedem Detail auf Kultur hinweist. Auf der einen Seite des Hauses stehen 500 Jahre alte Olivenbäume, die es mit eigenem Olivenöl versorgen. Auf der anderen Seite inspirierende, üppig bepflanzte Bereiche mit Laubengängen und der von Vegetariern geschätzte Gemüsegarten.)
Es ist ein langer Weg, den Hans Werner Henze von einer Kultur in eine andere zurückgelegt hat. Parallel dazu hat er eine Bildungsreise und einen sozialen Aufstieg bewältigt. Aufgewachsen ist er in sehr armen und, wie er sagt, unglücklichen Verhältnissen auf dem deutschen Lande in Westfalen.
"Es war ein sehr provinzielles Zuhause... es gab keine Musik, kein Theater, überhaupt nichts dergleichen. Und meine Familie war ziemlich arm. Wir hatten nicht einmal ein Radio."
Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie diese „andere“ Welt, die der Kunst, entdeckten?
"Es gab ein mobiles Kino, das der Bevölkerung Filme vorführte, hauptsächlich mit politischer Propaganda. In einem Dokumentarfilm, der gezeigt wurde, dirigierte Furtwängler Mozart, und ich erinnere mich, dass mir der Klang des Orchesters wie aus einer Welt vorkam, nach der ich mich sehnte. Ich beschloss, Musik zu studieren, was ich später mit Hilfe eines Stipendiums auch tun konnte."
Es war ein großer Schritt, den er gemacht hat. Die Musik wurde zum Instrument innerer und äußerer Reisen in Henzes bewegtem Leben. Ohne zu zögern stellt er die Musik an die erste Stelle unter allen Kunstformen.
"Denn sie hat die Kraft, bestimmte Saiten im Körper zu berühren. Starke Gefühle."
Der Kontakt mit der Öffentlichkeit ist wichtig.
"Ja, es ist wichtig, kommunizieren zu können. Ich habe sehr gute Erfahrungen mit dem Publikum gemacht, vor allem in den letzten Jahren. Sogar in Wien!"
Welche Reaktionen auf Ihre Musik machen Sie glücklich?
"Kürzlich dirigierte Christian Thielemann in Berlin meine Zehnte Symphonie. Als sie zu Ende war, spendete das Publikum stehende Ovationen. Das war großartig. Ich fühlte mich akzeptiert. Das ist es, was das Komponieren sinnvoll macht: Während man innerlich immer weiter sucht, kann man immer noch darauf vertrauen, dass es ein Publikum gibt, das darauf wartet, die eigene Musik zu hören."
Ein Vormittag und Mittagessen mit Henze sind vorbei. Er wird ein Mittagsschläfchen halten, bevor ein neues Interview beginnt. Er sagt, er freue sich auf das Festival in Stockholm, eine Stadt, die er zuvor nur einmal besucht hatte: als er im Februar 1977 das Royal Philharmonic Orchestra unter anderem in seinem Orchesterwerk „Tristan“ dirigierte.
Nun kann das Stockholmer Publikum Hans Werner Henze endlich persönlich kennenlernen und leibhaftig erleben.
“Es gibt eine Passage bei Leonardo da Vinci, die ich liebe, …”
fügt Henze abschließend hinzu:
“Musik verkörpert das Unsichtbare”
Das ist wunderbar gesagt und bringt Sinn der Musik auf den Punkt. Es wird eine Festwoche, in der dieses Unsichtbare in Musik formuliert wird.
(Übersetzung: M. Kerstan)