Strawinsky und Vera erschienen pünktlich um 21 Uhr am Haupteingang. Die Livrierten aber ließen den Fremdling nicht hinein: Er hatte keinen Smoking an! (Der seine hatte nach Mottenpulver gerochen.) So ein Pech. Der Vorfall machte Schlagzeilen, und der Minister für turismo e spettacolo schickte einen Entschuldigungsbrief und Blumen für Madame ins Hassler. Strawinsky ging nun zur zweiten Aufführung, diesmal als einziger im Smoking, denn für die Reprisen gab es da keinen Zwang, also war er eigentlich wieder falsch angezogen. Er ging mit unserem gemeinsamen Verleger, Willy Strecker, der ihm anschließend ein paar lobende handgeschriebene Sätze über mein Stück entlockte. Was er verpasst hatte, war der Premierenskandal, der gestern abend schon ausgebrochen war, als die Musik, eine Perkussionsfolie im Pianissimo, gerade eben erst begonnen hatte. Ich saß anfangs mit Jean-Pierre (Ponnelle) im Regiezimmer, dort hörten wir über Funk, wie Proteststimmen, Gemurmel, Gelächter sich wie Mief, wie eine stinkende Hundematte über die Musik legten. Erst jetzt fiel mir ein oder auf, dass sich hier kein capo della clacque vorgestellt hatte – vielleicht hatte ihn jemand anderer schon vor mir engagiert?! Es war ganz klar, dass organisierte Störer im Hause saßen, allerdings brummelte es auch im Parkett, wo die teuersten Plätze waren. Ich konnte es nicht aushalten, verließ das Theater und machte während der ganzen Vorstellung Rundgänge in der Gegend, von einer Bar zur anderen, von der Piazza Esedra bis zur Kirche von S. Maria Maggiore, betete aber nicht. Zur Schlussszene kehrte ich in die Oper zurück und fand, vom Bühnenpförtner schon nicht mehr gegrüßt, die Tänzer weinend auf der Treppe sitzen: Sie hatten der Musik nicht folgen können, sie waren aus dem Takt gekommen, das Publikum hatte zu laut gebrüllt. Tatsächlich, nun konnte ich es selber von der Kulisse aus hören: Da draußen herrschte ein infernalischer Lärm. Man terrorisierte auch die Sänger, indem man jeden hohen Ton von ihnen, jedes Solo verlachte, bis sie kaum noch wagten, den Mund aufzutun. Und als es dann überstanden war und ich mich Hand in Hand mit dem armen Jean-Pierre vor dem Vorhang den tobenden Smokings stellte, kamen doch tatsächlich einige davon bis zum Orchester herangesprungen und drohten uns mit geschüttelten Fäusten. Einige riefen: Viziati! Andate a Capocotta! (Capocotta war der Ort, wo angeblich kokainschnupfende römische Playboys kürzlich ein Mädchen namens Wilma Montesi durch eine Überdosis um die Ecke gebracht haben sollten.)
Vorgestern noch, nach der öffentlichen Generalprobe, war ja alle Welt so für das Stück eingenommen, die Festspielleitung glücklich und voller Triumphgefühle gewesen, dass eine Aristokratin mit österreichischem Namen spontan sich entschlossen hatte, ein großes Fest für mich zu geben, um ein Stück, seinen Autor und den grande successo zu feiern, dessen man sich allgemein sicher war. Man wollte sich auf der Bühne treffen und dann gemeinsam … - nun kam aber keine Fürstin mehr, nur die Stuckenschmidts, mit denen ich dann in die Trattoria Re degli Amici ging. Ingeborg, mit dem österreichischen Kulturattaché im Theater, war während der Vorstellung in Ohnmacht gefallen und wurde gerade heimgebracht. Luchino Visconti, der seine Nachbarn im Parkett um Ruhe gebeten hatte, war beschimpft und beleidigt worden.
aus: Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten, Frankfurt (S. Fischer) 1996, S. 161-163