Im Herbst 1975 baten der damalige Bürgermeister der Stadt Montepulciano und der Kulturassessor der toskanischen Regionalverwaltung Hans Werner Henze um Rat, auf welche Weise sie ein Musikfestival in der Stadt veranstalten könnten, nachdem ihr erster Versuch missglückt war.
Nach zahlreichen Gesprächen mit verschiedenen Stadträten und Einwohnern und nach eingehender Besichtigung der vorhandenen kulturellen Einrichtungen zog der Komponist folgende Bilanz: An den Schulen gab es keinen Musikunterricht, die Musikschule stand leer und verfügte nur über zwei kaputte Klaviere, das Theater aus dem Jahr 1796 war baufällig und ständig geschlossen und einmal in der Woche gab es im kircheneigenen Kinosaal einen Film zu sehen. Die einzige musische Aktivität war der alljährlich Mitte August aufgeführte „Bruscello“, ein fingiertes Volksschauspiel, von einem Priester inszeniert und von ihm musikalisch begleitet „auf einer elektrischen Orgel, der er schon seit 1939 selbstsicher und ungehindert die gleichen deprimierenden, weil falschen Akkordverbindungen entlockt hatte“.
Henze sprach verschiedene junge oder auch schon etablierte Künstler und Künstlerinnen an, ob sie nicht an einem neuartigen Kunstfest mitwirken wollten, bei dem sie gemeinsam mit Bewohnern Montepulcianos, den Poliziani, gemeinsame Projekte realisieren wollten. So wurde es auch kein Festival, sondern ein „Cantiere“ – eine Baustelle oder auch Werkstatt, bei der jede und jeder Mitwirkende sowohl Lernende als auch Lehrende sein würden. Mit Komponisten-Kollegen (Peter Maxwell Davies, Michael Denhoff, Thomas Jahn, Henning Brauel, Fabio Vacchi, Geoffrey King, Niels Fréderic Hoffmann, ‚Richard Blackford und Francis Pinto schuf Henze für das erste Jahr eine Kollektiv-Oper, Der heiße Ofen und mit weiteren Kollegen, Luca Lombardi und Wilhelm Zobl den Lieder-Zyklus Hommage à Kurt-Weill. Thomas Jahn komponierte Drei Einakter unter dem Titel Il palazzo zoologico auf Texte, die vier englische Kinder unter Anleitung von Edward Bond gedichtet hatten und die dann von italienischen Schulkindern übersetzt wurden. Inszeniert wurde dieses neue Werk von Volker Schlöndorff und Mathieu Carrière. Der damals 23-jährige Riccardo Chailly begann seine Karriere mit dem Dirigat von Il Turco in Italia, und weil man vergessen hatte, einen Chor einzuladen, wurde ad hoc ein solcher aus den Mitarbeitenden des 1. Cantiere gebildet, darunter auch Henze als Tenor. Dieser bearbeitete zudem Giovanni Paisiellos Oper Don Chisciotte della Mancia für eine Aufführung auf der Piazza Grande.
Letztendlich haben Musikliebende auch die Entstehung von Henzes Royal Winter Music für Gitarre dem Cantiere zu verdanken, denn damit hatte der Komponist den damaligen Weltstar Julian Bream nach Montepulciano gelockt, um dort einen Meisterkurs und ein Konzert zu geben. In den ersten fünf Jahren bis 1980 bot der Cantiere die Grundlagen zahlreicher künstlerischer Laufbahnen, so für die römische Bühnen- und Kostümbildnerin Nanà Cecchi oder die Stuttgarterin rosalie , für den Regisseur Willy Decker und den Dirigenten Jan Latham-Koenig,, die 1980 Henzes Pollicino (mit dem Libretto von Giuseppe di Leva) uraufführten. Im selben Jahr präsentierte der gerade zu Ruhm gekommene Choreograph William Forsythe seine Tanzversion des elisabethanischen Dramas ´Tis Pity She’s a Whore von John Ford. Diese Produktion geriet beim anschließenden Gastspiel an Stammhaus des Choreographen, dem Stuttgarter Staatstheater, zu einem veritablen Skandal, wohl, weil es den Schwaben zu explizit und zu avanciert war.
Henze hat in seiner Autobiografie „Reiselieder mit böhmischen Quinten“ (Frankfurt 1996), vor allem aber in den beiden Aufsätzen „Pollicino – eine Oper für Kinder“ und „Die Kunstwerkstätten von Montepulciano 1976-1980“, beide in seiner Sammlung „Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1984“ ausführlich über dieses nachhaltige Projekt berichtet.