Lieber Sam, bei deiner Frage, ob es in der Zukunft zu einer Vermischung von Jazz und "ernster" Musik (im folgenden E-Musik genannt, wie bei der GEMA) kommen könnte, musste ich unwillkürlich an einen Kollegen von mir denken, der sich mit Elektronik und anderen sehr fortschrittlichen Dingen der E-Musik beschäftigt. Er rief nach dem Anhören des Modern Jazz Quartet (auf dem Donaueschinger Musikfest 1957) aus: Heute habe ich viel gelernt!
Denken wir doch einmal historisch, denken wir an die letzten fünfzig Jahre der Musik: das glanzvolle Aufkommen des Jazz, ein Eroberungszug über die Welt, gegenüber dem schweren Weg einer neuen Musik, auf den Schultern einer Jahrhunderte alten Tradition im Kampf gegen Unverstand, Reaktion, Spießertum, im heißen Bemühen um eine Jugend - während der Jazz sich mühelos die Herzen eroberte.
Ohne Tradition ist nun aber die E-Musik gar nicht zu denken, jede auch noch so kühne neue Manifestation ist ein Beweis dafür (das wirklich Neue muss sich sogar, um das Unbekannte auszudrücken, ganz besonders bekannter Termini bedienen).
In deutlichem Kontrast dazu steht der Jazz, - eine barbarische, traditionsfreie Idee, in einer der (von der Vergangenheit gestützten, aber damit gleichzeitig belasteten) neuen Musik diametral entgegengesetzten Position.
Beide Musiken existieren unabhängig voneinander. Gelegentlich hat ein E-Musiker sich etwas vom Jazz genommen: Stravinsky in der "Geschichte vom Soldaten" und im "Ragtime", Milhaud in der "Création du monde", der frühe Hindemith in den "Kammermusiken" und in der "Suite 22" - es ließen sich da noch mehrere Beispiele anführen, aber solche gelegentlichen Übernahmen ändern nichts an der Natur der neuen E-Musik und haben außerdem wenig mit Jazz zu tun. Es sind Zitate des Jazz, gelegentlich mögliche Zwischenpositionen, wie etwa Liebermann's Konzert für Jazzband und Orchester oder mein "widerliches, dekadentes" (laut Ost-"Berliner Zeitung) Ballett "Maratona di Danza". Aber das alles ist doch kein Jazz! Der Gebrauch von Jazzelementen macht noch keinen Jazz.
Auf der anderen Seite: Der Jazzmusiker benutzt zuweilen Termini der E-Musik (oft zu ähnlichen parodistischen Zwecken, wie die E-Musik den Jazz zitiert).
Aber - und nun kommt, was ich dir hauptsächlich sagen wollte - es ist nie zum Vorteil des einen oder des anderen Elements. Im Verein schwächt der Jazz die Geistigkeit der E-Musik, und umgekehrt schwächt diese die Spontaneität des Jazz.
E-Musik ist intim, ist Selbstgespräch, Anrede (abstrakt kann sie sein), ist raffinierte Ton-Kunst, die sich eine ideale (vorbereitete) Hörerschaft vorstellt, oder auch gar keine. Jazz aber ist Tanzmusik (doch! doch!), Gebrauchsmusik, wenn auch die beste, physisch wirksamer als E-Musik es sein will, er kann und will gar nicht anders als Erregung, Bewegung hervorrufen, während E-Musik tausend verschiedene Emotionen hervorruft und voller Geheimnisse ist, die oft den Zugang zu ihr erschweren. Die Improvisation, das gefühlsbildende Element im Jazz, ist hundertprozentig vom Interpreten, vom Spieler abhängig, während die E-Musik die vom Komponisten beabsichtigten Emotionen auch dann hervorrufen kann, wenn seine Musik von weniger bravourösen Solisten oder Orchestern wiedergegeben wird, ja selbst wenn man sie nur in der Partitur liest.
Lieber Sam, gerade weil ich Jazz liebe, und am meisten den spontanen, unintellektuellen, kann ich mir weder vorstellen noch wünschen, dass es da je zu einer Union zwischen den beiden Welten käme. Aus beiden Typen Musik wird immer wieder etwas Neues erwachsen, unabhängig voneinander, im wildesten Streit um Stile und Schulen wird irgendwo in der Welt ganz unauffällig das notwendig Neue zum Vorschein kommen, während anderes herausbricht, abfällt.
Der Jazz ist eine neue Kunst, die die alte Kunst nicht nötig hat. Die Faszination liegt im Gegeneinander, nicht im Durcheinander.
Ciao!
Dein H W. H.