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Zum "Medusa-Skandal" 1968 in Hamburg

In seiner Autobiografie erinnert sich Hans Werner Henze an die Umstände der geplatzten Uraufführung seines Oratoriums Das Floß der Medusa am 9. Dezember 1968 in Hamburg.

Ich kann den verhängnisvollen Abend der Medusa-Premiere nur so schildern, wie ich ihn erlebt habe: aus der Doppelperspektive des Autors und Dirigenten. Das zu tun, macht mir weiter keine Mühe, wenn es auch unangenehm ist, sich noch einmal an jene schrecklichen Hamburger Tage erinnern zu müssen. Übrigens habe ich bisher nie über diese Affäre gesprochen oder geschrieben, schlimmstenfalls habe ich gezwungenermaßen hier oder da ein paar verkürzte Sätze dazu gesagt, aber das war auch alles. Ernst Schnabel hat damals gleich ein Büchlein über den Skandal geschrieben, worin man nachlesen kann, wie die Sache sich für ihn dargestellt hat. Für mich hat es natürlich wieder etwas anders ausgesehen als für ihn, denn ich war ja nicht nur als Komponist in meinem Innersten angegriffen und in meiner Ästhetik in Frage gestellt, sondern war auch der verantwortliche musikalische Leiter des Abends.

Meine Erinnerung wird beherrscht von dem fürchterlichen Gefühl des Alleinseins. Ich kam mir in jenen Tagen vor wie getrennt vom Rest der Menschenwelt, zu keiner ihrer Gruppierungen gehörend. Da stehen wir nun in der Kulisse, Charles Regnier (als Charon), die Edda Moser (Madame La Mort), der Dieter (der Mulatte Jean-Charles) und ich, zum Auftritt bereit, aber niemand holt uns – dabei ist es doch schon ein paar Minuten nach acht. Durch einen Spalt in der Wand können wir sehen, daß da draußen im Saal irgendwas nicht in Ordnung ist. Die Leute stehen herum. Kartenprobleme? In der ersten Reihe sitzen Liebermann, Ustinov, Solti, der Rundfunkintendant und seine Programmdirektoren, die Dessaus, Schnabels. Wir verstehen nicht, was los ist. (Später erfuhren wir dann, daß Kriminalbeamte im Saal waren und nach rebellisch aussehenden Typen Ausschau hielten – nach meiner claque, oder nach meinen Kritikern?) Da niemand kommt, uns aufs Podium zu bitten, entschließen wir vier uns, einfach aufzutreten: Kann ja sein, daß die Macht der Musik oder der Musikanten genügt, um die Unordnung zu beseitigen. Also machen wir uns auf den Weg, die Solisten voran, denen daher entgeht, wie mich ein Herr in Grau aufhält und sagt: Wenn Sie die rote Fahne nicht entfernen, die da eben ans Podium montiert wird, sind Sie für die Konsequenzen verantwortlich.

Tatsächlich, einer hat da gerade einen roten Fetzen an meinem Podium angebracht. Da hängt er nun! Blitzschnell begreife ich, daß es jetzt für mein ganzes Leben und für meine Zukunft als Mensch und Künstler wichtig ist, auf die offensichtliche Provokation, so lächerlich sie auch sein mochte, fehlerlos zu reagieren. So antworte ich dem Herrn, der sich als Puttfarcken vorstellt, Mitarbeiter der Rundfunkanstalt des öffentlichen Rechts, daß ich nicht daran dächte, seiner Aufforderung zu folgen, und gehe weiter. Ich hätte auch sagen können: zum Dirigieren, nicht zur Raumpflege bin ich bestellt. Betrete das Podium, bitte das Publikum um Ruhe, es wird tatsächlich still im Saal, und ich bereite den Auftakt für den ersten Orchestereinsatz vor. Da höre ich, erst im Pianissimo, dann deutlicher und lauter werdend einen Sprechchor. Woher kommt der? Der kommt – ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen – von unserem Podium: Damen und Herren des aus Berlin hinzugestoßenen RIAS-Kammerchors, der lieben Menschen, mit denen ich doch öfters schon friedlichst musiziert habe, skandieren unisono: »Die Fahne weg! Die Fahne weg!« Ich schaue sie an und warte, sie schauen mich an und skandieren weiter. Ich schaue den Fidi an: Was tun? Achselzucken – schließlich signalisieren wir uns durch Blicke, daß es wohl besser ist, das Podium wieder zu verlassen. Auch die RIAS-Herrschaften verlassen das Podium.

Hinter der Bühne entfacht sich eine heftige Diskussion. Die Damen und Herren sagen, sie liebten mich zwar, aber unter der roten Fahne, die in Berlin auf dem Brandenburger Tor – nein, das könnten sie nicht. Ich sage, es wehe auch eine auf dem Hamburger und dem Berlin-Schöneberger Rathaus, aber das ist wohl was anderes. Fischer-Dieskau sagt erregt zu mir: Dies war das letzte Mal, daß ich mich von dir hinters Licht habe führen lassen. Vor Schreck vergesse ich zu fragen, welches war das vorletzte Mal? Und was er überhaupt meine? Welches Licht? Aber dazu kommt es nicht mehr, da nun Frau Moser uns unterbricht und mich heftig umarmt, wobei sie ausruft: Was auch immer sei, ich bleibe dir treu! Dies alles spielt sich in Sekundenschnelle in unserem Künstlerraum ab, während draußen bereits der Sturmangriff der Bereitschaftspolizei beginnt, die plötzlich ganz einfach deswegen da ist, weil sie von Anfang an in einem Nebenraum einsatzbereit mit Knüppel und Schild und Plastikfolie stationiert worden ist.

Demnach hatte also der Veranstalter mit Unruhen gerechnet und vorsorglich Polizeischutz angefordert! Aber warum ist die Polente denn eigentlich in Aktion getreten? Aufs Podium zurückgekehrt, von dem sich nun auch das Orchester entfernt, finde ich Charons Mikrophon und benutze es, um gegen den Polizeieinsatz zu protestieren, es wird mir jedoch von einem Bullen entrissen, bevor ich meinen ersten Satz zu Ende gesprochen habe. Am Vordereingang prügeln verschiedene sozialistische Denkschülergruppen aufeinander ein. Großes Durcheinander, brutale Gewaltanwendung, Verhaftungen. Ernst Schnabel, immerhin ehemaliger Intendant des NDR, wird von einem Bullen durch eine Glastür geworfen und landet voller Glassplitterschnittwunden im Knast, wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Er hatte versucht, den Knüppelnden Einhalt zu gebieten. Die rote Fahne wurde in Stücke gerissen. Was ich an dem Abend gar nicht bemerkt und erst später auf einem Zeitungsphoto gesehen hatte, das war ein weiteres am Dirigentenpult angebrachtes Plakat, auf das jemand das Substantiv »Revolutionär« und ein Fragezeichen gemalt hatte. Was damit gemeint war und was mit dem Papier geschehen ist, das entzieht sich allerdings nun ganz und gar meiner Kenntnis. Nach dem verunglückten Konzert waren die Leute verstört auseinandergegangen.

Es war noch früh am Abend. Paul Dessau und Georg Solti diskutierten im Hotel über Politik im Konzertsaal, Musik und Gesellschaft. Ich saß bei Hamburger Bekannten (im schicken Pöseldorf, in derselben Straße, in der alte Freunde aus dem Musikleben wohnten – sie waren zu Hause, ich sah das Licht bei ihnen brennen, ich wußte, daß sie wußten, wo ich war, aber keiner war so nett, herüberzurufen oder vorbeizukommen), mit dem inzwischen vom Rechtsanwalt Groenewold ausgelösten, mit Verbänden und Pflastern versehenen Ernesto Schnabel, seiner Freundin, der sinistren Sissi Plessen, einigen Hamburger Bekannten und den Berliner Freunden Gastón, Amendt und einem für Lenny Bernstein und die Revolution schwärmenden Gymnasiasten namens Rainer Esche. Alle redeten aufgeregt durcheinander, aber keiner wusste so recht, was er eigentlich sagen wollte oder sagen sollte. Was mich selbst betrifft, da erinnere ich mich nur an meine schweigsame Gelassenheit, so eine persönliche Art von Zen, die ja bekanntlich auch das Ertragen physischer Schmerzen erleichtern kann: Das bin nicht ich, der da gequält wird. Ich sorgte mich mehr um Fausto, den das Ganze schwer mitgenommen hatte und der in seinem zu Hause anerzogenen Misstrauen gegenüber den Deutschen leider wieder einmal bestärkt worden war. Er weinte. Am nächsten Morgen ist er, sobald es hell geworden war, nonstop über die Autobahnen, nur kurz zweimal tankend, ohne auszusteigen, ohne zu essen oder zu trinken, bis nach Italien durchgefahren. Nicht mal mehr pinkeln wollte er auf deutschen Boden.

Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten: Autobiographische Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt (Fischer) 1996, S.292-295

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Reiselieder mit böhmischen Quinten [2016]

Autobiographische Mitteilungen 1926–1995
Hans Werner Henze
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